Intransparent, übermächtig, unangreifbar? Warum Versicherungen kaum kontrolliert werden – und wie unabhängige Gutachter beginnen, das System aufzubrechen
Lebensversicherungen galten jahrzehntelang als der Inbegriff von Sicherheit. Ein verlässlicher Sparplan, der am Ende der Laufzeit auszahlt – so lautete das Versprechen. Doch die Realität ist für viele Verbraucher ernüchternd: Es fehlt Geld. Überschüsse werden einbehalten, Rückkaufswerte weichen massiv von der Erwartung ab. Die Frage drängt sich auf: Warum ist es so schwer, diese Ansprüche vor Gericht durchzusetzen?
Laut BaFin wurden allein im Jahr 2023 in Deutschland über 83 Milliarden Euro Beiträge in Lebensversicherungen eingezahlt. Gleichzeitig liegt der durchschnittliche Rückkaufswert oft 30 Prozent unter den eingezahlten Beträgen, insbesondere bei Verträgen mit hohem Provisionsanteil. Ein erheblicher Teil der sogenannten „garantierten Leistungen“ kann im Krisenfall durch gesetzliche Regelungen wie § 314 VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz) gekürzt werden – ein Paragraf, der kaum ein Verbraucher kennt, der aber in der Tiefe des Kleingedruckten das Versprechen einer Garantie ins Wanken bringt.
Doch der eigentliche Skandal offenbart sich erst vor Gericht. Denn: Wer seine Ansprüche einklagen will, trägt die volle Beweislast – und steht einer Gegenpartei gegenüber, die mit jahrzehntelanger Erfahrung, Milliarden-Rücklagen und eigener Interpretation von Recht arbeitet.
Warum fehlt das Geld? Und warum ist das nicht sofort erkennbar?
Der Kern des Problems liegt in der Komplexität der Kalkulation: Die meisten Lebensversicherungen arbeiten mit Modellrechnungen, Zinsannahmen, Rückstellungen und Überschussbeteiligungen, die für Laien und auch für viele Juristen undurchschaubar sind. Der Unterschied zwischen dem, was laut Vertrag hätte ausgezahlt werden sollen, und dem, was tatsächlich ankommt, lässt sich nicht mit Bauchgefühl belegen, sondern nur mit präziser Mathematik. Und hier beginnt das Dilemma.
Denn: Die wenigsten Verbraucher haben Zugriff auf unabhängige Versicherungsmathematiker (Aktuare). Fast alle Aktuare arbeiten in oder für die Versicherungswirtschaft. Unabhängige Gutachter wie Prof. Dr. Philipp Schade sind rar – und ohne sie ist die Beweisführung praktisch unmöglich. Dabei lässt sich, wie Schade betont, mit „ein bisschen Zahlengefühl und gesundem Menschenverstand“ oft sehr klar zeigen, dass Überschüsse nicht dort landen, wo sie laut Kalkulation hinmüssten.
Beweislast und juristische Hürden: Wenn Zahlen zu wenig sind
Vor Gericht genügt es nicht, auf gefühlte Ungerechtigkeit zu verweisen. Ein Kläger muss konkret vortragen, wie viel ihm zusteht – und das mit belastbaren Zahlen belegen. Das Problem: Die Versicherer geben ihre Kalkulationsgrundlagen nicht freiwillig heraus. Selbst öffentlich zugängliche Geschäftsberichte enthalten oft nur aggregierte Daten. Richter verlangen zu Recht eine saubere Herleitung – haben aber selten das mathematische Fachwissen, um die Gutachten selbst zu beurteilen. Die Folge: Viele Richter neigen dazu, eher der „offiziellen“ Gegenseite zu glauben – insbesondere wenn der Klägeranwalt keine Zahlen versteht oder falsch vorträgt.
Es ist ein strukturelles Ungleichgewicht: Ein Verbraucher mit Anwalt steht einem Großversicherer gegenüber, der eigene Juristen, eigene Aktuare, eigene Schriftsatzabteilungen und jahrzehntelange Prozesspraxis mitbringt. Und doch: Wenn Gutachter und Anwalt gut zusammenarbeiten, lässt sich Bewegung erzeugen. In ersten Fällen kam es bereits zu gerichtlichen Vergleichen, Rückzahlungen und Nachberechnungen, weil plötzlich sichtbar wurde, dass die versprochene Leistung in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Einzahlungen stand.
Ergänzend zur faktischen Beweislast gibt es jedoch inzwischen wichtige juristische Leitplanken, die Kläger stärken können – sofern sie professionell genutzt werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in mehreren Urteilen (z. B. BGH, Urteil vom 7. Mai 2014 – IV ZR 76/11) klargestellt, dass bei fehlerhafter oder unterlassener Widerspruchsbelehrung der Rücktritt von Lebensversicherungsverträgen auch Jahre nach Vertragsschluss noch möglich ist. Dies betrifft insbesondere die sogenannten Policenmodelle, bei denen der Vertrag durch Zusendung der Unterlagen zustande kam. Der BGH beurteilte hier das Widerspruchsrecht als dauerhaft fortbestehend, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Informationen nicht oder nicht ordnungsgemäß erteilt wurden.
Besonders wegweisend war auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19. Dezember 2019, Az. C-355/18, das das deutsche Vertragsrecht in diesem Bereich unter europäischen Druck gesetzt hat. Der EuGH stellte klar, dass ein Widerspruchsrecht grundsätzlich auch nach Jahrzehnten noch bestehen kann, wenn Verbraucher nicht ausreichend über ihr Rücktrittsrecht informiert wurden – selbst dann, wenn die Versicherer formale Belehrungen erteilt hatten, die jedoch inhaltlich oder gestalterisch fehlerhaft waren.
Doch selbst bei einer klaren Rechtslage bleibt die Hürde: Der konkrete finanzielle Nachteil muss vom Kläger substanziiert dargelegt werden. Das heißt: Selbst bei einem wirksamen Widerspruch muss der Versicherungsnehmer aufzeigen, wie viel ihm zusteht, was an Kapital fehlt, welche Abzüge nicht gerechtfertigt waren und in welcher Höhe Zinsen oder Nutzungen herauszugeben sind. Genau hier entscheidet sich der Ausgang vieler Verfahren – nicht am Gesetz, sondern an der mathematischen Tiefe der Klagebegründung.
Deshalb kommt der Zusammenarbeit mit unabhängigen Versicherungsmathematikern (Aktuaren) eine entscheidende Bedeutung zu. Nur sie können die oft hochkomplexen Finanzmodelle der Versicherer analysieren, bewerten und gerichtsfest nachvollziehbar machen. Ohne sie bleibt selbst das stärkste Urteil des EuGH ein stumpfes Schwert – und das juristische Risiko liegt, wie so oft, beim Verbraucher.
Ein System in Bewegung – aber bisher nicht in der Fläche
Noch ist es eine Graswurzelbewegung: Einzelne mutige Verbraucher, engagierte Rechtsanwälte, unabhängige Versicherungsmathematiker. Doch sie stoßen eine Debatte an, die längst überfällig ist: Warum vertrauen wir einem System so sehr, das uns über Jahrzehnte Intransparenz zumutet? Warum genießen Lebensversicherer nach wie vor das Image der Verlässlichkeit, während sie im Ernstfall mit Formparagrafen, Rückkaufswertklauseln und stillen Kürzungsrechten arbeiten?
Deutschland leidet, wie Prof. Philipp Schade es treffend formuliert, unter einem tief verankerten Obrigkeitsglauben. Wenn die Versicherung rechnet, dann wird das schon richtig sein – so die weitverbreitete Haltung. Doch genau diese Ehrfurcht verhindert die kritische Auseinandersetzung mit den realen Zahlen, die sich oft nur mit Hilfe versicherungsmathematischer Expertise enttarnen lassen. Und sie hindert viele daran, ihre berechtigten Ansprüche zu verfolgen.
Doch die Debatte betrifft nicht nur die Verbraucher – sie betrifft die gesamte Branche, insbesondere die Versicherungsmakler, die über Jahrzehnte als das „Vertrauensorgan“ zwischen Kunden und Versicherern agiert haben. Viele von ihnen spüren bereits jetzt die Spannung: Einerseits stehen Vertriebsinteressen, Abschlussprovisionen, Branchenabhängigkeit. Dennoch wächst das Bedürfnis der Kunden nach Fairness, Transparenz und echter Beratung.
Es mag unbequem erscheinen, diesen Wandel mitzutragen – die Sorge ist verständlich, dass eine zu starke Aufklärung das Vertrauen in die Branche erschüttert. Doch langfristig wird die Wahrheit ohnehin ans Licht kommen. Die Digitalisierung und der Zugang zu künstlicher Intelligenz erleichtern es Verbrauchern heute, komplexe Finanzprodukte zu hinterfragen. Verträge werden durchleuchtet, Rückkaufswerte nachgerechnet, stille Kürzungen identifiziert – oft mit einem Mausklick.
Die gute Nachricht: Wer als Makler oder Berater diesen Wandel offensiv begleitet, wer echte Aufklärung statt Verkaufsrhetorik bietet, wird nicht verlieren – sondern gewinnen. Denn Verbraucher von heute suchen nicht den Verkäufer mit dem dicksten Abschlussheft, sondern den Vertrauten, der komplexe Produkte ehrlich und verständlich erklärt. Wer das bietet, wird künftig Kunden nicht nur binden, sondern sie auch begeistern.
Der Wandel kommt – ob die Branche ihn will oder nicht. Die entscheidende Frage lautet: Wer geht mutig voran, wer klärt auf, wer baut Vertrauen neu auf? Und wer bleibt in einem System verhaftet, das mehr verschleiert als schützt? Die Karten werden gerade neu gemischt – und Transparenz ist der neue Trumpf.
Fazit: Der Schlüssel liegt im Wissen – und im Mut zur Konfrontation
Der Kampf um nicht ausgezahlte Ansprüche bei Lebensversicherungen ist kein juristischer Nebenschauplatz – er ist ein Prüfstein für das Vertrauen in unser Vorsorgesystem. Wer heute seine Rechte durchsetzen will, muss nicht nur bereit sein, Fragen zu stellen – sondern systematisch Beweise sammeln, mathematisch argumentieren und gerichtlich auftreten, wo früher eine Beschwerde beim Versicherer genügte.
Die Rechtsprechung gibt die Richtung vor – doch der juristische Hebel funktioniert nur, wenn die Beweislast präzise erfüllt wird. Es braucht konkrete Zahlen, belastbare Gutachten und mutige Kläger mit kompetenter anwaltlicher Unterstützung. Nur so kann das strukturelle Machtungleichgewicht gegenüber der Versicherungswirtschaft durchbrochen werden.
Aber es gibt Hoffnung: Mit gutachterlicher Expertise, mutiger anwaltlicher Strategie und wacher Öffentlichkeit wächst der Druck auf das System. Der Weg ist unbequem – aber er ist möglich. Und vor allem: Er ist notwendig. Denn es ist höchste Zeit, dass die Versicherung wieder das wird, was sie einmal war: ein Instrument der Fürsorge, nicht der Intransparenz.
V.i.S.d.P
Dr. Rainer Schreiber
Dozent, Erwachsenenbildung & Personalberater
Über den Autor:
Personalberater und Honorardozent Dr. Rainer Schreiber, mit Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzierung, Controlling, Personal- und Ausbildungswesen. Der Blog schreiber-bildung.de bietet die Themen rund um Bildung, Weiterbildung und Karrierechancen.
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